Spiegelfechterei um Gesamtschule beenden!

Es muss wohl eine Mischung aus Ignoranz demokratischer Fakten und Justamentstandpunkt sein, wenn die beiden ÖVP-Politikerinnen Bernadette Mennel und Beate Palfrader in der Tageszeitung „Die Presse“ das Bekenntnis zum Gymnasium im Entwurf für das neue Parteiprogramm der ÖVP als „bedauerlich“ empfinden. Denn nach einem breiten und umfangreichen Meinungsbildungsprozess, der auch für Nicht-Parteimitglieder offen stand, sprachen sich schlussendlich mehr als 84% der ÖVP-Mitglieder für ein nach Leistungsvermögen differenziertes Schulsystem und damit für das achtjährige Gymnasium aus. Dies sollte nun auch in Tirol und Vorarlberg anerkannt werden.

Doch die Realität überrollt ohnehin jede Gesamtschul-Theorie. Der Anfang März 2015 veröffentlichte Evaluierungsbericht über den Gesamtschul-Vorläufer Neue Mittelschule (NMS) beklagt, dass die NMS an das Niveau der alten Hauptschulen nicht herankommt (vom Niveau der Gymnasien ganz zu schweigen), keine verbesserte Förderung der leistungsschwächsten Schüler zustande gebracht und sich sogar die Lernsituation der Lernschwächeren noch verschlechtert habe.

Der durch solche Berichte noch einmal verschärfte undifferenzierte Ansturm auf die Gymnasien vor allem in städtischen Regionen hilft weder dem Gymnasium selbst noch den NMS. Im Gegenteil: Er verursacht menschliches Leid durch Überforderung in der falsch gewählten Schulart. Der jährlich steigende Druck auf Lehrerinnen und Lehrer der vierten Klassen in den Volksschulen führt zu einer Inflation an Volksschulzeugnissen mit ausschließlich „Sehr gut“ und in weiterer Folge dazu, dass heuer etwa in Dornbirn 35 und in Innsbruck sogar 50 Schülerinnen und Schüler mit solchen Zeugnissen und trotz übervoller Klassen in den Gymnasien keinen AHS-Platz bekommen haben. Zu viele Kinder schlagen nicht jenen Schulweg ein, der für sie der beste wäre.

Künftig sollen nicht mehr allein die Noten der letzten Klasse der Volksschule den weiteren Schulweg bestimmen, sondern ergänzend auch in einem Prognoseverfahren die tatsächlichen Interessen, Talente und Fertigkeiten der Kinder im Mittelpunkt stehen.

Wer nun glaubt, dass dieser Vorschlag aus der stockkonservativen Mottenkiste der ÖVP-Bundespartei kommt, liegt weit daneben! Er stammt aus den Bundesländern Tirol und Vorarlberg und steht damit im krassen Gegensatz zur eingangs erwähnten Medienberichterstattung. Sie bringen damit abseits der medialen Polemik einen praktikablen Lösungsansatz für ein Problem ein, das in den letzten Jahren immer stärker an Brisanz zugenommen hat.

Anleihen für die Umsetzung dieses Vorschlags kann man bei den Schwerpunkt-NMS nehmen: Dort gibt es bereits bei Sport- bzw. Musik-NMS Aufnahmeverfahren, die die Talente und Fähigkeiten interessierter Kinder unter die Lupe nehmen. Sinnvoll wäre ein Modellversuch, bei dem alle Kinder in der vierten Klasse Volksschule ein Prognoseverfahren durchlaufen. Dieses sollte von einer von den Schulen unabhängigen Instanz durchgeführt werden und könnte eine objektive Orientierung für weitere, passende Bildungswege liefern. Ein solcher Modellversuch wurde bereits vor Jahren vom Landesschulrat für Tirol und auch von jenem für Niederösterreich beim Unterrichtsministerium eingereicht, allerdings umgehend abgelehnt.

Es ist ein Faktum, dass beim Eintritt in eine NMS bereits die wesentlichen Weichenstellungen im Leben eines Kindes getroffen wurden. Und trotzdem läuft die Bildungsdebatte in Österreich immer nach dem gleichen Muster grundlegend falsch: Statt über bestmögliche Bildung in Kindergärten und Volksschule zu reden, dreht sich die politische Debatte seit vielen Jahren ausschließlich um die Gesamtschule der Zehn- bis 14-jährigen.

Beenden wir also im Sinne der Kinder diese Spiegelfechterei um die Gesamtschule und richten wir anstatt dessen unseren Fokus auf die frühkindliche Förderung, auf den Kindergarten sowie die Volksschule. Achten wir ganz besonders bei den Übertritten zwischen der Volksschule und der Sekundarstufe sowie beim Übertritt in weiterführende Schulen mit 14 darauf, dass wir Bildungswege gemäß den Interessen, Talenten und Fertigkeiten der Kinder und Jugendlichen ermöglichen und sie nicht durch falsch verstandene Bildungsideale verbauen. Prognoseverfahren können dazu eine wertvolle Hilfestellung sein!